Das Zeugnis von Tibhirine

 

von Armand Veilleux

 

 

Im Laufe der letzten Woche' wurde in Algerien des zwanzigsten Jahrestages des Todes unserer Brüder von Tibhirine gedacht. Aus diesem Anlass fanden Feierlichkeiten statt, die sich auszeichneten durch ihre Ernsthaftigkeit und Einfachheit. Der Freitag, 15. April, war den Familienmitgliedern der Mönche vorbehalten. Die meisten von ihnen kamen zum ersten Mal nach Tibhirine, je­denfalls nach dem Tod der Mönche. Mehrere von ihnen repräsentierten schon eine jüngere Generation, also die der Kinder der Geschwister der Mönche oder der Kinder ihrer Cousins und Cousinen. Als Vertreter des Ordens waren Ge­neralabt Eamon, der Abt von Bellefontaine, von wo drei der 1996 ermordeten Mönche stammten, Dom Andre Barbeau, der in den Jahren nach den Ereignis­sen Abt in Aiguebelle war und sich als Vaterabt sehr um Tibhirine gekümmert hat, sowie ich selbst zugegen.

An diesem ersten Tag wurde in der Kapelle von Tibhirine eine Eucharistie gefeiert, dort also, wo Generationen von Mönchen über ein halbes Jahrhundert hinweg gebetet hatten. Ich selbst habe dort die Homilie gehalten. Am Nach­mittag folgte ein interessantes Gespräch mit Bischof Teissier, dem emeritierten Bischof von Algier, bei dem er die Situation der Kirche in Algerien näher be­schrieben hat. Es ist eben die Situation, die von unseren Brüdern von Tibhirine so verstanden und verinnerlicht worden war, die Situation einer Kirche von gerade mal ein paar hundert einheimischen Christen, die sich hingegen ver­antwortlich fühlen und solidarisch sind mit einer Bevölkerung von 45 Millionen Algeriern, die fast alle Moslems sind. Der Tag endete mit einem Couscous im Kreise der Dorfbevölkerung, die das Andenken an die Mönche lebendig hält, mit denen sie freundschaftlich und in gegenseitigem Respekt verbunden war. Ich habe mich sehr gefreut, Mohammed wiederzusehen, den Wächter des Klosters, während die Mönche dort lebten, wie auch andere Nachbarn, die ich 1996 kennenlernen durfte.

Am folgenden Tag fand die Diözesanwallfahrt statt, die jährlich zu dieser Zeit gehalten wird. Ein Bus fuhr von Algier aus, sehr auffällig von der Polizei eskortiert, dem die Sirenen halfen, sich seinen Weg durch den Verkehr zu bah­nen. Alles schloss am Sonntagvormittage mit einer Messfeier in der Basilika Notre-Dame d'Afrique in Algier, bei der die Familienmitglieder und einige an­dere Personen anwesend waren, die eigens für diese Gedenkfeiern nach Tibhi­rine gekommen waren.

In Tibhirine leben ständig zwei Perso­nen: Ein Priester der „Mission de France", Jean-Marie Lassaus­se, der seit 2001 für die Anlage verant­wortlich ist, und Fre­deric de Thysebaert, ein Laienzisterzienser von Scourmont. Der Ort bleibt Ziel häufi­ger Besuche seitens der algerischen Be­völkerung, fast aus­schließlich Moslems, die sich an den Gräbern der Mönche besinnen. Die Botschaft, die von den Mönchen durch ihr Leben des Gebets inmitten des algerischen Volkes und der Kirche von Algerien vermittelt wurde, bleibt weiterhin lebendig. Vor allem dieser Umstand rechtfertigt größtenteils den laufenden Seligsprechungsprozess. Hierbei handelt es sich um eine für alle Ordensleute und Priester an-gestrenge Causa, die während der gewaltgeladenen Krisenjahre zu Tode gekommen sind, Bischof Claverie von Oran eingeschlossen.

Die geistliche Botschaft der Mönche von Tibhirine ist im Ganzen gesehen sehr schlicht. Einerseits steht sie für ein sehr einfaches, ganz und gar authen­tisches monastisches Leben, das gleichzeitig dem speziellen sozioreligiösen Kontext angepasst ist, andererseits steht sie für ein mit der Bevölkerung ver­bundenes und im Geist der Brüderlichkeit verstandenes Leben. Dieses sehr einfache Miteinander im täglichen Leben und mit den Nachbarn und Dorfbewohnern, sowie allen, die ins Kloster kamen, um dort Dienste in Anspruch zu nehmen, ist ein wirklicher interreligiöser Dialog. Er war jahrzehntelang Reali­tät, bevor in den letzten Jahren [vor der Ermordung] ein anderer, mehr auf in­tellektueller und geistlicher Ebene geführter Dialog hinzutrat.

Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Schriften verfasst, die sich mit dem Leben und der Botschaft der Brüder von Tibhirine befassen. Einige dieser Wer­ke haben vor allem den Gedankengang, die Lehre und die Schriften von Chris­tian de Chergé und Christophe [Lebreton] zum Thema. Ein neues Buch ist gerade herausgekommen (das wir gerade im Refektorium lesen). Sein Titel: Tibhirine - das Erbe, erschienen bei Bayard. Es handelt sich um einen Sammel­band mit etwa zehn Erfahrungsberichten. Dieses Buch zeichnet sich auch da­durch aus, dass es ein kurzes Vorwort von drei Seiten aus der Feder von Papst Franziskus enthält. Das könnte sich vielleicht als hilfreich erweisen, den Selig­sprechungsprozess abzukürzen!

Freilich wirft das Buch kein neues Licht auf die Botschaft der Mönche von Tibhirine, zumal die Mehrzahl der Verfasser die Brüder nicht zu ihren Lebzei­ten gekannt hat. Auch das Kloster von Tibhirine haben die meisten nicht besu­chen können, als noch eine monastische Gemeinschaft dort lebte. Dennoch erlauben diese Erfahrungsberichte - denn vor allein als solche stellen sie sich dar -, die Wirkmächtigkeit wahrnehmen zu können, die die Gemeinschaft von Tibhirine oder der eine oder andere ihrer Mönche auf die Autoren ausübt.

Bischof Vesco von Oran bezeugt hingegen im Blick auf die Exhumierung der Mönche: „Ich konnte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass dem Friedhof des Klosters Gewalt angetan würde". Er bekennt aber auch, dass diese kürzlich erfolgte Exhumierung der sterblichen Überreste aufgrund der anste­henden Autopsie im Rahmen der staatlichen Untersuchungen mit der größt­möglichen Würde stattgefunden hat. Nicht zu vergessen ist hingegen, dass dieser Vorgang auch für das Seligsprechungsverfahren wiederholt werden muss, wenn es weiter voranschreitet. (Niemand hatte daran gedacht, doch wenn man den Fortschritt der Causa betrachtet, dann hätte sich durchaus eine neuerlich durchzuführende Exhumierung vermeiden lassen ...).

Bei einigen Autoren des Buches lässt sich durchaus großes Unverständnis gegenüber der laufenden gerichtlichen Untersuchung bezüglich der Umstände der Entführung und Ermordung der Brüder feststellen. Das ist vor allem bei dem Bischof von Oran der Fall, der erst einige Jahre nach dem Tod der Mönche nach Algerien gekommen ist. Glücklicherweise haben die Herausgeber auch dem Richter Marc Trévidic das Wort erteilt, der in seinem kurzen Artikel in ge­konnter Weise die Hauptanliegen zu unterscheiden weiß, die beide wesentlich sind: die Botschaft der Mönche lebendig zu halten, aber auch der ebenso wich­tigen Wahrheitsfindung der Umstände ihres Todes zu dienen. Ich erinnere mich gut an die Gedanken der Journalistin Florence Aubenas, deren Inter­viewgesuch ich einmal abgelehnt habe, das sie zu dieser Untersuchung schrei­ben wollte. Sie hat mir erwidert: „Deine Mitbrüder haben so sehr in der Wahrheit gelebt, dass sie auch das Recht haben, dass man die Wahrheit über die Umstände ihres Todes erhellt."

All diejenigen, die es bedauern, dass eine gerichtliche Untersuchung als „Anzeige gegen Unbekannt" durch mich und eine der Familien der Mönche, der sich andere dann angeschlossen haben, angestrengt wurde, sind anderer­seits einhellig voll des Lobes für den Film „Von Menschen und Göttern" des Regisseurs Xavier Beauvois, der dazu beigetragen hat, die Botschaft von Tibhi­rine in der Welt bekannt zu machen. Sie scheinen nicht zu wissen, dass der Film von Beauvois von 2010 nicht existieren würde, hätte es diese Klage des Jahres 2003 und die darauf folgenden Untersuchungen mit ihrer Öffentlich­keitswirksamkeit nicht gegeben. Auch die Botschaft der Mönche von Tibhirine wäre dann lediglich in einigen katholischen Milieus Frankreichs und Algeriens wahrgenommen worden, sowie in den Klöstern unseres Ordens.

Wie auch immer die Zukunft der Örtlichkeiten von Tibhirine aussehen wird und was auch immer die Ergebnisse der Untersuchung sein werden — die Bot­schaft, die uns das Leben unserer Brüder von Tibhirine hinterlässt, wird sich auf lange Zeit positiv auf Kirche und Gesellschaft auswirken. Diese Botschaft ist in unserer Zeit mehr als notwendig, wo Tausende von Flüchtlingen nach Europa strömen und wo die Attentate von Paris und Brüssel eigentlich überall einen Reflex der Angst, des Unverständnisses und der Ablehnung des Anderen hervorrufen.

 

 

 

 


 

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