RB 72: Der monastische Weg
zum ewigen Leben [1]
ARMAND VEILLEUX
Es ist
allgemein anerkannt, dass die Kapitel 67 bis 72 von Benedikt zu einem späteren Zeitpunkt zum Haupt-Corpus der
Regel — die mit dem jetzigen Kapitel 73 endete, das damals nach Kapitel 66 kam — hinzugefügt wurden.
Diese neue Reihe von Kapiteln behandelt auf
eine neue Art die Themen der vorangehenden Kapitel, unterstreicht jedoch in besonderer Weise die horizontalen
Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft. Wir können dieses Kapitel 72 als Benedikts geistliches
Testament betrachten. Außerdem kann es nicht getrennt vorn Kapitel 71 über den gegenseitigen
Gehorsam gelesen werden.
Im Prolog der Regel hatte Benedikt vor Augen, wie der
Vater herumgeht und sagt „Ist hier jemand, der sich nach
Leben sehnt?" Und Kapitel 72 endet mit dem Gebet, Christus möge uns alle
zusammen zum ewigen Leben bringen. Das gesamte Corpus der Regel zwischen
diesen beiden Textstellen beschreibt die Werkzeuge, die auf dieser monastischen
Reise, welche uns zum ewigen Leben führt, benutzt werden sollen. Ebenso sagt
Benedikt am Beginn des Prologs, dass er diese Regel für diejenigen geschrieben
hat, die durch die Mühe des Gehorsams zum
Vater zurückkehren wollen, von dem sie sich in der Trägheit des Ungehorsams entfernt
haben. Und am Ende der Regel haben wir dieses Kapitel
über den gegenseitigen Gehorsam; alles dazwischen ist eine Beschreibung dieser Reise
durch den Gehorsam.
Benedikt spricht von zwei Arten des Eifers.
Bekanntlich stammt das Wort Eifer (lat. zelum) vom griechischen zelos; es bedeutet etwas, das brennt. Es ist Feuer. Benedikt nennt zwei
Arten von Feuer: eines, das uns abwärts, und das andere, das uns in die Höhe führen
kann. Wir sollten sehr genau auf die Worte achten, die er benutzt. Ich denke,
die meisten von uns, wenn wir diesen Text lesen, haben
dabei die Vorstellung, dass der Ausgangspunkt dort ist, wo
wir gerade sind — in der Mitte, auf der Erde —, und dass wir nach unserem
Tod entweder zur Hölle fahren oder in den Himmel, je nach der Art Eifer, die
wir praktiziert haben. Aber das ist es nicht, was Benedikt sagt. Er spricht von
einer Reise, die entweder von Gott (in der Höhe) zur Hölle geht, oder von der
Hölle zu Gott. Wir sind immer auf einer
Reise — auf einer dieser beiden Reisen. Wir befinden uns nie an einem
statischen Punkt, von dem aus wir entweder hinauf oder hinunter gehen können,
als Konsequenz unserer Handlungen (unseres Eifers).
Diese Reise ist im Licht der Reise zu verstehen, die
der Sohn Gottes gemacht hat, der vorn Vater kam und unser
Menschsein teilte, der durch den Tod in den Abgrund der Hölle ging und vorn ades auferstand,
aber nicht zu unserem sterblichen Leben, sondern zum Vater. Auf dieser Reise
übernahm er unsere ganze Menschlichkeit und brachte sie mit hinauf in den Schoß seines Vaters. Durch die von
uns gewählte Art des Eifers ignorieren wir entweder die Inkarnation Christi und
setzen unsere endlose Reise hinunter in den Abgrund der Hölle fort, oder
wir identifizieren uns mit Christus, der von den Toten auferstand zu seinem Vater oben. — Es handelt sich nicht bloß darum,
dass man die Hölle verdient oder den
Himmel, je nach dem Eifer, den wir zeigen.
Im zönobitischen Leben ist das keine einsame Reise:
der Punkt ist, dass alle zusammen gehen. Das ist die fundamentale Bedeutung unseres
Lebens in Gemeinschaft. Das alles wird sehr
schön in den folgenden Sätzen zusammengefasst: „Einander in gegenseitiger Achtung übertreffen... die leiblichen und
charakterlichen Schwächen aneinander in großer Geduld ertragen... einander in gegenseitigem Gehorsam zu überbieten
suchen..."; „Sie sollen den
Brüdern eine reine Liebe erweisen, Gott sollen sie in Liebe fürchten, und dein Abt seien sie in aufrichtiger und demütiger
Liebe zugetan." Das könnte man schlicht als ein paar gute
Ratschläge für ein harmonisches christliches Zusammenleben betrachten. Es muss aber auch im allgemeinen Kontext von
Benedikts klar zönobitischer Ausrichtung gelesen werden. Es kann gar
nicht genug betont werden, wie sehr Benedikt zu der großen zönobitischen
Tradition gehört, die nicht nur auf Pachomius zurückgeht, sondern auch auf Basilius und auf andere frühe
Formen des christlichen Zönobitismus. Diese Tradition war zuerst von Cassian
und dann besonders vorn Magister zu etwas umgewandelt worden, das mehr halb-eremitisch orientiert ist. Zum Glück
hat Benedikt wieder die echte zönobitische Note eingeführt, wobei er sich nicht
nur von Pachomius, sondern auch von
Augustinus und Basilius inspirieren ließ. Und diese klar zönobitische Ausrichtung Benedikts ist besonders in den
Kapiteln zu finden, die er zur ersten Fassung seiner Regel hinzufügte,
höchstwahrscheinlich gegen Ende seines Lebens.
Ich möchte mir hier etwas Zeit nehmen, um die frühe
Entwicklung dieser zönobitischen Tradition zu
beschreiben, und das ist vielleicht auch die Gelegenheit, ein wenig ausführlicher
zu erklären, was ich über die Ursprünge des monastischen Lebens, die auf die Taufe Jesu zurückgehen,
gesagt habe.
Vor dreißig oder vierzig Jahre vermittelten unsere
Lehrbücher ein recht einfaches Bild: Monastisches Leben war demnach plötzlich
aufgesprossen, mehr oder weniger wie ein Pilz,
und zwar in Ägypten, an einem feuchten Morgen an den Ufern des Nils, wenige Tage nach dem konstantinischen Frieden. Zuerst
hatte Antonius als Eremit mit ein paar Schülern gelebt, dann kam
Pachomius, der die Gefahren des eremitischen Lebens erkannte und das kommunitäre Leben begründete. Von Ägypten aus
verbreitete sich das monastische
Leben in andere Länder, zuerst im Osten, dann im Westen, bis in die Zeit
Benedikts hinein. Diese Sicht ist zu simpel, um wahr zu sein; sie ist sogar zu
simplistisch.
Die Wirklichkeit ist viel komplexer und viel schöner.
In Wirklichkeit hat sich das monastische Leben in allen
Ortskirchen, sowohl des Ostens wie auch des Westens, mein oder weniger gleichzeitig aus der
Vitalität einer jeden Ortskirche heraus entwickelt — auch wenn es stimmt, dass
es sich in Ägypten auf eine sehr besondere Weise entwickelt hat und der ägyptische Monastizismus daher einen
besonderen Einfluss auf das übrige christliche Mönchtum ausübte.
Die allgemeine Auffassung, dass das monastische Leben
zu Beginn des vierten oder am Ende des dritten
Jahrhunderts begann, ist eine Art praktische Übereinkunft von Historikern. Von
der Mitte des 20. Jahrhunderts an haben viele gute Studien etwas beschrieben, das man
Prä-Monastizismus in Kappadokien vor Basilius und in allen judenchristlichen
Kirchen jener Zeit nannte. Dann haben viele Historiker die verschiedenen Formen
des Asketismus studiert, die in der Kirche in den ersten drei Jahrhunderten
existierten, bis zurück zur
Zeit Jesu. Und da wurde klar, dass wir es mit der gleichen spirituellen
Bewegung zu tun haben, die sich
über diese Jahrhunderte innerhalb der Kirche schrittweise entwickelte,
ohne dass man klare Demarkationslinien zwischen einem sogenannten frühen Asketismus oder Prä-Monastizismus einerseits
und dann dem Monastizismus andererseits zu finden vermöchte.
Um die lange Geschichte kurz zu machen: Das Bild, das sich aus all diesen
Studien ergibt, zeigt, dass es im späten
Judentum und in ganz Asien zur Zeit Jesu eine breite und starke asketische Bewegung gab, von der Qumran
und Johannes der Täufer nur individuelle Manifestationen waren. Als Jesus sich
freiwillig von Johannes taufen ließ, übernahm er diese Bewegung und gab
ihr eine neue Ausrichtung. Als einige Christen der ersten Generation manche der radikalen Forderungen Jesu im Evangelium zu
einer ständigen Lebensweise für
sich machen wollten, da fanden sie in der religiösen Kultur ihrer Zeit einen Lebensstil vor, in dein sie dies
ausdrücken konnten. Diese große, jahrhundertealte asketische Tradition entwickelte sich dann innerhalb der Kirche
in den ersten paar Jahrhunderten, während sie sich gleichzeitig
außerhalb der Kirche weiter entwickelte, unter gegenseitiger Beeinflussung.
Durch den kollektiven sensus fidei fand ein Prozess der Reinigung und der Klärung statt, und Ende des
dritten Jahrhunderts war in der Kirche eine
klar definierte christliche Lebensweise, der man den Namen „Monastizismus"
gab, anerkannt. Aber diese Lebensweise gab es schon vorher; sie geht auf
Christus zurück. Und wenn wir einen konkreten Moment des Anfangs suchen, würde
ich persönlich diesen Moment in der Zeit
der Taufe Jesu sehen. (Aber wir wollen diesen Einschub schließen, man
müsste ihn viel ausführlicher
entwickeln.)
Ich möchte nun noch eine Bemerkung vorausschicken,
die die Eigenart des zönobitischen
Lebens betrifft. Die früheste bekannte Form des christlichen monastischen Lebens in Syrien war die
des wandernden Asketen, nach dem Beispiel Christi, der nichts hatte, wohin er sein Haupt
legen konnte. Später in Ägypten, zur Zeit des Antonius, gingen viele fort aus
den Städten, um in der Wüste zu leben. Das Leben in der Wüste ist schwierig und gefährlich. Man
kann sich in der Wüste selbst finden, und man kann sich dort verlieren. Wenn daher jemand
zu einer einsamen Reise abseits der stützenden Umgebung der örtlichen religiösen Kultur aufbrechen
wollte, dann spürte er normalerweise, dass
er eine gewisse Führung brauchte. Er suchte jemanden, der diese Erfahrung vor ihm gemacht hatte. Er suchte einen abba, jemanden,
den diese Erfahrung so verwandelt hatte, dass er voll vom Geist war, ein
Träger des Geistes (pneumatophoros). Er stellte sich unter die Leitung
eines solchen Meisters.
Damit haben wir eine Beziehung zwischen Meister und
Schüler, eine direkte Beziehung von Person zu Person, sehr ähnlich der eines
indischen Guru und seiner Schüler. Es ist eine
im Grunde zeitlich begrenzte Beziehung, für die Periode der spirituellen
Formation. Auch wenn ein Meister
viele Schüler hat und auch wenn es zwischen den Schülern eine gewisse Form der Beziehung gibt, so ist die
Grundbeziehung eine direkte, von Person zu Person, zwischen dem Meister und jedem einzelnen seiner Schüler. Der
Meister tut nichts anderes als seine
Erfahrung mit seinen Schülern zu teilen — ein Mittel, um sie in ihrer
eigenen persönlichen Erfahrung zu führen.
Im zönobitischen Leben haben wir eine ganz andere
Situation. Die großen zönobitischen Gründerväter wie
Pachomius oder Basilius, um nur diese beiden zu nennen, begriffen,
dass viele Schüler das gleiche Ziel verfolgten und auf der gleichen
spirituellen Reise waren. Ihr Charisma war es,
eine Lebensweise einzurichten, die sich in einer vorn Evangelium
inspirierten Regel ausdrückt. Die Erfahrung des Gründers und aller seiner
Schüler verkörperte sich dann in dieser Regel, die die ganze Gemeinschaft von
Brüdern (oder Schwestern) übernahm. Die
Rolle, die der spirituelle Meister in der Wüste zu spielen pflegte, wurde auf die Gemeinschaft
übertragen. Die Rolle des zönobitischen abba war die eines Dienstes innerhalb der Gemeinschaft. In diesem
Rahmen wird man als christlicher
Mönch geformt, indem man das Evangelium innerhalb einer Gemeinschaft lebt,
gemäß einer Regel, unter der Führung eines Abtes.
Das ist die Vision, die in der Benediktsregel zu
finden ist. Im ersten Kapitel über die Arten der Mönche unterscheidet Benedikt
zwischen den Eremiten, die er schätzt — aber nicht für sie schreibt er die Regel —, sodann den
Gyrovagen und den Sarabaiten, für die er kein gutes Wort hat, und den Zönobiten, für die er die Regel schreibt.
In einem ganz kurzen Satz nennt er die drei
Basiselemente des zönobitischen Lebens. Ein Zönobit lebt „in Gemeinschaft, unter einer Regel und unter
einem Abt" — und die Reihenfolge, in der er diese drei Elemente
aufzählt, ist sehr wichtig. Das Basiselement ist die Gemeinschaft; dann kommt
die Regel, denn eine Gemeinschaft besteht aus Brüdern/Schwestern, die sich rund 11111
eine gemeinsame Vision gesammelt
haben, eine gemeinsame Lebensregel; dann
kommt der Abt/die Äbtissin, ein Mitglied der Gemeinschaft mit der
Verantwortung, darauf zu sehen, dass ein jeder wirklich durch das
gemeinsame Leben geformt werde. Die Rolle
des Abtes ist es nun nicht mehr, wie ein Guru seine eigene Erfahrung zu
teilen, sondern einen jeden in der gemeinsamen Erfahrung des
Evangeliums zu geleiten, gemäß einer Lebensregel, die von allen frei gewählt
wurde. Dieselben drei Elemente kommen in der Regel noch mehrmals zum Ausdruck. Zum Beispiel
im Augenblick der Profess, nach den zwölf Monaten der Formation und der
Unterscheidung: Der Kandidat soll seine Stabilität (in der Gemeinschaft), seine conversatio
(das heißt, sein Leben gemäß der Regel) und seinen Gehorsam gegenüber seinem Abt versprechen.
In dieser Tradition wird Gehorsam nicht als ein
Werkzeug der Formation oder als eine asketische Praktik
gesehen. Es geht vielmehr um die ständige Suche nach dem Willen Gottes,
unter Gebrauch einiger spezieller Werkzeuge. Der Gehorsam gilt immer Gott, aber es werden Formen der
Vermittlung mitgegeben, um ihn zu entdecken. Christus ist der Vater der Gemeinschaft. Seine
Vater/Mutterschaft wird im Gemeinschaftsleben verkörpert und vom Abt bzw. der Äbtissin ausgeübt.
Der Abt wiederum teilt diese Ausübung von Christi Vaterschaft mit etlichen
Personen, wie den Dekanen oder dem Prior, dem Krankenbruder, dein Gästebruder und allen, die in der Gemeinschaft
irgendeinen Dienst ausüben. Letztlich teilt er sie durch das Konventkapitel mit
allen Mitgliedern der Gemeinschaft.
Und alle Mitglieder üben die gleiche spirituelle Mutter- oder Vaterschaft der
ganzen Gemeinschaft gegenüber aus,
durch die Übung des gegenseitigen Gehorsams, wie im Kapitel 71 gesagt wird, das von Kapitel 72 nicht zu trennen ist.
Nach diesem langen Umweg — der aber, denke ich,
durchaus nicht unnütz war — sind wir wieder bei unserem Kapitel 72 über den
guten Eifert Mit dieser spirituellen Orientierung im
Kopf sehen wir einige von Benedikts Empfehlungen eine neue Dimension gewinnen: „Ihren
Mitbrüdern erweisen sie eine reine brüderliche Liebe; Gott sollen sie in Liebe
flüchten; ihrem Abt seien sie in aufrichtiger und demütiger Liebe
zugetan." Ebenso die Empfehlung, sie sollten
„einander in gegenseitigem Gehorsam zu überbieten suchen" und „nicht den
eigenen Vorteil suchen, sondern mehr den des anderen". Alle diese Empfehlungen,
und besonders jene, „mit großer Geduld die körperlichen und charakterlichen Schwächen
aneinander zu ertragen", haben ihre volle Bedeutung erst dann, wenn sie
vor dem Hintergrund von Mt 25 gelesen werden.
Das Ziel ist nicht so sehr, dass man versucht, sich
mit Christus zu identifizieren, indem man ihn
nachahmt und sich so verhält, wie man glaubt, dass er in unserer Situation sich
verhalten würde. Nein, das Ziel ist, jene zu würdigen,
mit denen sich Christus identifiziert hat.
Christus in unserem Abt zu sehen, aber auch in jedem einzelnen unserer Brüder
und Schwestern, und besonders in jenen, die mehr in Not sind — denen, die
leiden, die arm und begrenzt sind, physisch, psychisch, sogar spirituell. (Wir
müssen ihn auch in den Pilgern und Besuchern sehen, die ins Kloster kommen.)
Mit dieser Einsicht im Kopf, kommen wir zurück auf die eingangs genannten
zwei Formen des Eifers, die entweder abwärts
oder aufwärts führen. Christus, der zum Vater emporsteigt das ist eine Reise, die nicht getrennt von seiner Reise
hinunter zu uns, ja bis zum Tod und
zum Abgrund der Hölle, verstanden werden kann. Es gibt einen Weg hinunter in diesen Abgrund der Hölle, der besteht in
der Verweigerung der Liebe und der communio und damit in der
Verweigerung der Errettung. Es gibt aber noch einen Weg hinunter in den gleichen Abgrund: an Christi Seite, mit
der gleichen Liebe und dem gleichen Mitgefühl
wie er, und von dort zum Vater emporzusteigen.
In diesem Licht können wir nun alles lesen, was in der
Regel über die Haltung gegenüber menschlicher Schwäche geschrieben steht — menschliche
Schwäche in jedem von uns selbst wie auch
in den anderen. Wir könnten hier alles anführen, was die Regel über die Behandlung der Kranken — Krankheit in allen
möglichen Formen — sagt; die respektvolle
Aufmerksamkeit gegenüber jenen, die mit Gott ringen, so wie Jakob, und der mitfühlende Umgang mit Sündern (jedoch mit einem
klaren, festen Standpunkt zur Sünde — einschließlich
unserer eigenen).
*****
Es gibt auch noch die Schwächen der Gemeinschaft
selbst. In diesem Zusammenhang dürfen wir von all den
Formen der Prekarität sprechen, die wir heute in jeder unserer Gemeinschaften
erfahren. Ich muss sagen, ich habe gemischte Gefühle beim Gebrauch dieses
Wortes; denn mir will scheinen, dass es oft -- jedenfalls in meinem Orden —
dazu benutzt wird, um eine Unterscheidung zwischen zwei
Gruppen von Kommunitäten zu schaffen: die einen, die prekär sind; und die
anderen, von denen man annimmt, dass sie das nicht sind... Wir sind alle
prekär.
Prekarität ist eine Dimension des menschlichen Lebens.
Sie ist eine notwendige Dimension unserer Schönheit als Geschöpfe. Nichts ist
so prekär wie eine schöne Blume. Die ganze Menschheit ist prekär. Und das
Wunderbare ist, dass Gott, nachdem er ein prekäres
Universum erschaffen hat, selbst diese Prekarität angenommen hat durch die Menschwerdung.
Als Mensch lebte er eine prekäre Existenz und starb im frühen Alter von
ungefähr 33 Jahren.
Die Kirche ist prekär; und das ist ihr Normalzustand. Kürzlich habe ich
eine patristische Schrift aus den ersten
Jahrhunderten wiedergelesen: die Epistel an Diognetos, die möglicherweise vom hl. Justin dem Märtyrer
verfasst wurde. Sie ist vor mehreren Jahrzehnten in der Reihe Sources Chrétiennes veröffentlicht worden,
mit einem Kommentar des großen
Patrologen und Historikers Henri-Irénée Marrou. Es ist ein schönes Dokument: ein kultivierter intellektueller Christ
schreibt an einen intellektuellen Heiden. Er beschreibt die sehr bescheidene, prekäre Lage der Christen. Sie sind wie
alle anderen Bürger; sie heiraten
und bekommen Kinder; sie arbeiten für ihren Unterhalt, sie nehmen am sozialen Leben teil. Der Unterschied liegt in
ihrem Glauben an Christus und in der Liebe, die sie einander erweisen.
Marrou kommentiert folgendermaßen: Da war, sagt er, die normale Lage der Kirche — Zeuge für Christus durch eine sehr kleine
Gruppe von Gläubigen. Es folgte
eine lange Periode der Geschichte, in der die Kirche einflussreich und mächtig
war. Das, sagt Marrou, war eine lange Parenthese. Nun ist die Klammer geschlossen,
wir sind wieder bei der Normalität.
Die Zukunft aller unserer Kommunitäten ist ungewiss, so wie es die Zukunft
einer jeglichen
menschlichen Institution ist.
Für einige ist sie offenkundig ungewisser als für andere. Manche unserer Kommunitäten durchleben
kritischere Situationen als andere. Es ist
nicht auszuschließen, dass einige werden zusperren oder manche ihrer Formen des
Apostolats aufgeben müssen. Es wäre
jedoch ein Fehler, diese Frage so zu behandeln, als sei sie nur das Problem einiger Kommunitäten, oder
als sei es ein monastisches oder sogar
ein religiöses Problem, für das wir unsere eigenen Lösungen finden müssen. Es
ist ein Problem der Kirche als Ganzes, und es ist ein Problem der Gesellschaft,
in der wir leben. Das Problem ist in
Europa sicherlich akuter als in Nordamerika, doch ich bin sicher, auch viele unserer amerikanischen
Kommunitäten sind damit konfrontiert. Wir können allerdings unseren kleinen originellen Beitrag zur Lösung eines
globalen Problems leisten, im Dialog
und in Gemeinschaft mit anderen davon betroffenen Bereichen der Kirche
und der Gesellschaft.
Die Kirche, die von Christus gegründet wurde, war
mehrere Jahrhunderte lang prekär. Heute ist sie in vielen
Teilen der Welt wieder prekär— was laut Evangelium ihr Normalzustand ist:
eine kleine Handvoll Sauerteig im Teig der Menschheit. Zwischen diesen beiden Zuständen
war, wie ich vorhin sagte, eine lange Parenthese, während der die Kirche ruhmreich und mächtig war. Die
derzeitige Situation entspricht mehr der eigentlichen Natur der Kirche, die als sichtbares Zeichen der Errettung unter die
Nationen gesandt wurde, nicht als ein Eroberungsunternehmen.
Das Charakteristische an der Situation der
Christenheit während des Mittelalters war, dass die
christlichen Werte für jedermann einen Bezugspunkt darstellten. Die Leute waren keine
besseren Gläubigen, und sie führten kein moralischeres Leben als heute. Es gab Gewalt, es gab ständig Kriege
(allerdings weniger verheerende als heute). Die christlichen Werte wurden von
jedermann anerkannt, auch von denen, die nicht nach ihnen lebten. Diese Werte wurden oft mit Waffengewalt
aufgezwungen. In jener Epoche hatten viele
äußere Aspekte des religiösen Lebens (etwa die materielle Klausur und der Mönchshabit) für jedermann einen symbolischen
Wert. Die Kirche übte große Macht im Bereich
der Erziehung und in vielen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten
aus. Wir mögen es bedauern oder
nicht: diese Situation gibt es nun einmal nicht mehr, zumindest in den meisten
Ländern der westlichen Welt. Bemühungen, sie wiederherzustellen, sind pathetisch und langfristig nutzlos.
Diese Situation einfach als „Entchristlichung"
zu betrachten scheint mir eine allzu simplifizierende Analyse zu sein. Die
Kirche -- das heißt, wir alle — muss
wieder lernen, ohne Macht zu leben.
Dies ist weder die Zeit noch der Ort, um zu
untersuchen, was unsere Kommunitäten, Kongregationen
und Orden in der Kirche seit dem Konzil durchlebt haben. Falsch wäre es, dem
Konzil und den von ihm hervorgerufenen Reformen den großen Rückgang der Zahl der
Berufungen in vielen Teilen der Kirche und das Schließen so vieler Kommunitäten und
so vieler kirchennaher Institutionen zuzuschreiben. Das Konzil hat nach einer spirituellen
Erneuerung verlangt; ich denke, dass wir als Ganzes alle unsere Bemühungen in diese
spirituelle Erneuerung gesteckt haben. Doch eine solche spirituelle Erneuerung erforderte
strukturelle Veränderungen, und diese sind in den meisten Fällen zu spät gekommen. Die krisis (in der
etymologischen und positiven Bedeutung des Wortes), die von solchen Veränderungen hervorgerufen wurde, hatte eine große
Läuterung zur Folge.
Wir sind durch die gleiche Erfahrung gegangen wie Ijob
in der Bibel... Wir haben begriffen, dass wir auch ohne viele der Dinge, die
uns unsere soziale Identität gegeben haben und auf die wir stolz waren,
existieren. Die meisten unserer Kommunitäten sind nicht mehr wie in den vergangenen Jahrhunderten stark, mächtig und
einflussreich; doch in ihrer
Prekarität und Schwäche sind sie weiterhin Zeugen der sequela
Christi. Das ist unsere Berufung: der Liebe Christi nichts
vorziehen, Christus in einer Gesellschaft
folgen, die sich ihrerseits in tiefer Veränderung befindet und immer ihre
eigene Identität sucht. Unsere Kommunitäten, ob klein oder groß, können dieses
evangelische Zeugnis geben. Unsere
Identität liegt nicht in den Diensten, die wir in der Kirche erfüllt haben oder
noch immer erfüllen, sondern in dem, was wir — spirituell — sind.
Einer der Mängel, die wir spüren, ist, dass wir nicht einmal eine erneuerte
Theologie des Ordenslebens haben. Im
gesamten zeitgenössischen theologischen Denken gab es keinerlei profunde Erneuerung der Theologie des
Ordenslebens — abgesehen von einigen sehr guten Essays. Und gab es denn eine
echte Erneuerung der Theologie der Ehe, des Priestertums, des Bischofsamtes?
Hat es seit dem Konzil eine echte Erneuerung der Theologie gegeben?
Auch mit unseren Schwächen — vielleicht gerade wegen
unserer Schwächen — haben wir eine Mission in unserer
leidenden Welt zu erfüllen. Die derzeitige geo-politische Entwicklung der Welt
hat in riesigem Ausmaß ein Aufeinandertreffen von Kulturen und Religionen in
allen Teilen der Welt, aber besonders in unserer westlichen Welt hervorgebracht.
Zur gleichen Zeit gibt es Mächte (wir sind versucht zu sagen: diabolische Mächte), die Spannungen zu verbreiten
suchen, sogar Krieg zwischen Kulturen und Religionen. Mönche und Nonnen haben auf diesem Gebiet ganz sicher eine
besondere Rolle zu spielen. Nicht
nur, weil wir in allen Teilen der Welt präsent sind und daher als Orden und Kongregationen eine weltweite Erfahrung haben,
sondern auch und gerade deswegen — weil den Kern unseres Lebens etwas bildet,
das auch den Kern der meisten großen Religionen der Welt ausmacht: die spirituelle Erfahrung. Wenn es schwierig
und manchmal sogar unmöglich wird,
einen Dialog auf der Ebene philosophischer und theologischer Vorstellungen zu führen, ist es viel leichter,
einander auf der Ebene der spirituellen Erfahrung zu begegnen.
***
Wir können uns der Frage nach dem guten Eifer über
viele Aspekte nähern, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen.
Tatsächlich aber bringen sie uns alle zur gleichen Wirklichkeit
der communio zurück — koinonia. Jesus sagte, er habe Feuer (zelos)
auf die Erde gebracht, und er wolle, dass dieses Feuer übergreift. Wenn
dieses Feuer wirklich in jedem unserer Herzen brennt, dann wird es sich zu
einer ständigen communio entwickeln:
communio mit Gott, verkörpert in der communio mit unseren
Schwestern und Brüdern innerhalb
jeder einzelnen Kommunität. Und diese communio innerhalb jeder unserer Kommunitäten ist nur dann real, wenn sie
ein Feuer ist, das sich ausbreitet und zu einer communio mit der Ortskirche entwickelt, mit der universalen
Kirche, mit anderen Religionen und überhaupt
mit der ganzen Welt, und besonders mit denen, die Jesus erwählte, um sich mit
ihnen zu identifizieren, den Kleinen.
[1] Dies
ist der zweite von zwei Vorträgen vor der Konferenz benediktinischer Äbte
und Priorinnen im Mercy Center, Burligame, Kalifornien, 2. bis 6. Februar 2007. Der
Vortragscharakter wurde beibehalten.