Eine Gemeinschaft von Gemeinschaften

Die zisterziensische Familie

von Armand Veilleux OCSO

 

Zur großen Familie all jener Gemeinschaften, die nach der Regel des heiligen Benedikt leben, gehört die zisterzienische Familie. Diese umfasst ihrerseits alle Gemeinschaften, die aus Cîteaux hervorgegangen sind, und schließt zwei große, rechtlich unabhängige Orden ein, den Ordo cisterciensis und den Ordo cisterciensis strictioris observantiae, für den sich die Bezeichnung „Trappistenorden“ eingebürgert hat. Zu dieser zisterziensischen Familie gehören außerdem der Orden der bernhardinischen Zisterziensernonnen von Esquermes, die Zisterzienserinnen-Kongregation vom hl. Bernhard in Spanien („Las Huelgas“ genannt) sowie einige unabhängige Klöster. Alle diese Gemeinschaften leben zwar das gleiche zisterziensische Charisma, aber in unterschiedlichen Ausprägungen, die oft auf die Überraschungen der Geschichte zurückgehen.

            Die Geburtsstunde von Cîteaux schlug 1098, als Robert, Gründer und Abt von Molesmes, zusammen mit etwa zwanzig Mönchen sein Kloster verließ. In einer Gesellschaft und Kirche, die einen kulturellen Umbruch erlebte, suchte er nach einer neuen Gestalt benediktinischen Mönchtums. Die letzten Jahre des 11. Jahrhunderts, in denen die Epoche der Gregorianischen Reform zu Ende ging, waren für das Mönchtum  eine Zeit schöpferischer Aufbrüche; mit Vallombrosa, Camaldoli und den Kartäusern gehört Cîteaux zu den zahlreichen neuen Formen monastischen Lebens, die damals im Westen aufkamen. Die Anfänge von Cîteaux waren langsam und schwierig ; doch dann dehnte sich diese Gründung außerordentlich rasch aus.

 

Die Grundstruktur

 

Auf Drängen seiner Brüder und auf Weisung des Papstes musste Robert nach Molesmes zurückkehren. An die Spitze seiner Gründung Cîteaux traten die beiden Mitgründer Alberich und Stephan Harding. Dieser, aus England stammend, war ein Organisationsgenie. Auf ihn geht der Geist der Carta Caritatis zurück. Dieses Dokument beschreibt die Beziehungen zwischen Cîteaux und seinen Tochterklöstern sowie zwischen diesen, deren Gründungen und den affiliierten Häusern. Zum ersten Mal in der Geschichte des Mönchtums war es gelungen, mehrere Gemeinschaften in einem Orden zusammenzuschließen und dabei die Autonomie jedes einzelnen Hauses vollständig zu wahren.

Der Kerngedanke von Stephan Harding und der Carta Caritatis lässt sich so ausdrücken: Sie wollten den Orden zu einer Gemeinschaft von Gemeinschaften formen. Die Urzelle des Ordens bleibt die Kommunität vor Ort mit ihrem Abt, den sie selbst gewählt hat. Die geltende Rechtsordnung sieht zwar unterschiedliche Voraussetzungen dafür vor, zu einem Priorat oder einer Abtei zu werden; doch jede Kommunität, gleich ob Priorat oder Abtei, ist kirchenrechtlich gesehen autonom, und ihr Oberer ist höherer Oberer. Das gilt selbst dort, wo in Ausnahmefällen die vorläufige Ernennung eines Oberen ad nutum erforderlich wird; die Kommunität verliert nichts von ihrer rechtlichen Autonomie. Der einzige Unterschied liegt darin, dass der Obere ernannt und nicht von der Kommunität gewählt wird.

 

Das Generalkapitel

 

Die Äbte und Prioren aller Kommunitäten kommen regelmäßig zum Generalkapitel zusammen. In der Anfangszeit des Ordens fand diese Versammlung jährlich statt, heute alle drei Jahre. Das Generalkapitel ist die einzige Instanz, die oberhalb der örtlichen Kommunität Jurisdiktionsvollmacht besitzt. Diese Vollmacht lässt sich so darstellen: Die autonomen Kommunitäten, die den Orden bilden, delegieren einen kleinen Teil ihrer Autorität; diese Delegation ist in den Konstitutionen des Ordens festgelegt, die der Heilige Stuhl approbiert hat.

            Die Rechte des Generalkapitels sind durch die Konstitutionen eindeutig bestimmt und begrenzt. Das Generalkapitel kann Neugründungen genehmigen, Klöster inkorporieren oder aufheben, den Rücktritt der Äbte annehmen und in seltenen Fällen Äbte absetzen. Es kann Gesetze und Regelungen promulgieren, die für alle Klöster gelten; doch kann es nicht in das innere Leben der Kommunitäten eingreifen, höchstens, um Missstände zu korrigieren.

 

Die Filiation

 

            Ein weiteres Strukturelement, da sauf die Carta caritatis zurückgeht, ist die Filiation. Jede Kommunität gilt als Tochterhaus der Kommunität, von der sie gegründet wurde, und diese trägt den Titel eines Mutterhauses. Der Abt oder Prior des Mutterhauses heißt pater immediatus – „unmittelbarer Vater“ all seiner Tochterhäuser. Er hat eine Aufsichts- und Fürsorgepflicht gegenüber den Tochterhäusern und soll sie in vielfältiger Weise begleiten unt unterstützen, auch materiell und geistlich. Gegebenenfalls kann er Missstände korrigieren; er darf sich aber keineswegs in das innere Leben der Gemeinschaft einmischen, für das ihr eigener Abt voll und ganz zuständig ist. Er ist für die regelmäßige Durchführung der kanonischen Visitation der Kommunität zuständig, die mindestens alle zwei Jahre zu halten ist.

            Manche Kommunitäten, von denen zahlreiche Gründungen ausgegangen sind, haben im Lauf der Jahrhunderte zu bestehen aufgehört. Die Rolle des Mutterhauses und des pater immediatus sind in solchen Fällen auf andere Kommunitäten übergegangen. Da und dort wurden Filiationen umgruppiert, um eine Überlastung einzelner Klöster durch eine zu große Anzahl von Tochterhäusern zu vermeiden. Doch das Filiationsprinzip als solches bleibt unangetastet bestehen: Jedes Haus des Ordens hat ein Mutterhaus. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen zwei Kommunitäten, selbst wenn der Obere des Mutterhauses in dieser Beziehung die Hauptrolle spielt. Cîteaux ist verständlicherweise ein Sonderfall ; als sein pater immediatus fungiert der Generalabt.

 

Der Generalabt

 

Der Generalabt hat eine wichtige Rolle, auch wenn seine rechtlichen Vollmachten sehr begrenzt sind. Er leitet selbstredend das Generalkapitel; dieses bildet ein Kollegium, dessen Vorsitzender der primus inter pares ist. Er kann die reguläre Visitation jeder Kommunität übernehmen. Die Konstitutionen weisen ihm einige kanonische Vollmachten zu wie z.B. die Dispens von den zeitlichen Gelübden; doch kann er nicht von Amts wegen in das innere Leben der Gemeinschaften eingreifen. So könnte nicht einem Mönch eine Erlaubnis erteilen, die diesem von seinem eigenen Abt verweigert wurde. Seine Aufgabe liegt wesentlich darin, ein lebendiges Bindeglied zwischen allen Kommunitäten des Ordens zu sein; auch soll er die Qualität des monastischen Lebens in allen Kommunitäten fördern. In Ausnahmefällen kann er zusammen mit seinem Rat, den das Generalkapitel wählt, über dringende Angelegenheiten entscheiden; er tut dies dann im Namen des Generalkapitels und unter Berufung auf dessen Vollmacht. Seit einigen Jahren setzt sich der Rat aus Mönchen und Nonnen zusammen.

 

Die Nonnen

 

Bisher war nur von den Männern die Rede, obwohl unser Orden 75 Frauenklöster umfasst, während die Zahl der Männerklöster bei 100 liegt. Die Beziehungen zwischen den den Kommunitäten der Nonnen und Mönche innerhalb des Ordens haben sich vielfältig entwickelt. An dieser Stelle sollen ein paar knappe Hinweise genügen, mit Schwerpunkt auf der gegenwärtigen Situation nach dem 2. Vatikanischen Konzil.

            Jedes Nonnenkloster unseres Ordens gilt als Tochterkloster eines Mönchsklosters, dessen Abt oder Konventualprior die Aufgabe des pater immediatus innehat. Bis zum 2. Vatikanischen Konzil waren unsere Nonnen den Entscheidungen des Generalkapitels unterworfen, das ausschließlich aus männlichen Oberen bestand. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts fanden immer wieder Versammlungen der Äbtissinnen statt, für die sich allmählich der Name « Generalkapitel » durchsetzte.

            Beim aggiornamento nach dem Konzil und bei der Revision unserer Konstitutionen wurde die Frage der Beziehung zwischen den Klöstern der Nonnen und der Mönche lang und breit diskutiert. Zugunsten der vollen Autonomie der Nonnen hätte der Gedanke an zwei parallele Orden nahegelegen, einen für die Nonnen und einen für die Mönche, die harmonisch zusammenarbeiteten, aber juristisch in keiner Weise voneinander abhiengen. Die Nonnen lehnten als erste diese Möglichkeit ab. Die Konstitutionen entschieden sich für eine Lösung, die so weit ging, wie es zum damaligen Zeitpunkt möglich war: Alle Klöster des Ordens, Männer- wie Frauenklöster, bilden einen Orden mit zwei Generalkapiteln, die aber miteinander verknüpft sind, und mit getrennten Konstitutionen.

            In Wirklichkeit sind die Konstitutionen für die Mönche und Nonnen fast identisch – abgesehen von einigen wenigen Punkten, die eigens für die Nonnen oder die Mönche gelten. In der Praxis fanden die Generalkapitel seit 1987 immer gleichzeitig als « Gemeinsame Generalversammlung » statt, mit getrennten Abstimmungen bei Fragen, die sich auf die Konstitutionen auswirken. Die Wahl des Generalabts liegt bei beiden Kapiteln; der Erwählte braucht die Mehrheit beider Gremien. Seit 2011 haben wir nur noch ein Generalkapitel, bestehend aus Äbten und Äbtissinnen, das für den gesamten Orden zuständig ist.

 

Jüngere Strukturen

 

In den vergangenen Jahrzehnten wurden einige neue Strukturen im Orden geschaffen, um besser auf neue Herausforderungen antworten zu können. An erster Stelle die Zentralkommission: Sie entstand nach dem Konzil, genauer gesagt während des Konzils; ein solches Organ erwies sich als notwendig für eine gute Vorbereitung der Generalkapitel, die sich damals den Erfordernissen der nachkonziliaren Erneuerung gegenübersahen. Ihre Rolle hat sich im Lauf der Jahre gewandelt. Derzeit bereitet sie hauptsächlich die Generalkapitel, ausgehend von der Vorarbeit der Regionalkonferenzen des Ordens. Ihre Treffen können auch als erweiterter Rat des Generalabts dienen, wenn dieser ihm wichtige Fragen vorlegen möchte. Bis vor kurzem gab es zwei rechtlich getrennte Zentralkommissionen, eine der Männer und eine der Frauen, die freilich immer gemeinsam tagten. Seit der Einführung eines Generalkapitels besteht nunmehr auch nur noch eine Zentralkommission für den Gesamtorden.

            Während des 2. Vatikanischen Konzils begannen die Äbte und Äbtissinnen mit informellen Treffen, bei denen sie ihre Sorgen und Erfahrungen auf dem Hintergrund der vom Konzil angestoßenen Erneuerung besprachen. So bildeten sich Regionalkonferenzen, die allmählich zu einer neuen Struktur innerhalb des Ordens wurden. Es handelt sich um Gruppierungen von Klöstern nach geographischen Großräumen. Sie sind in keiner Hinsicht mit den Provinzen anderer Ordensgemeinschaften zu vergleichen, können auch keinerlei Entscheidungen treffen oder gar Gesetze erlassen. Sie sind ein Forum für den pastoralen Austausch. Teilnehmer sind die Oberen der Klöster einer Region sowie eine Anzahl Delegierter, die nicht Obere sind; deren Zahl schwankt von Region zu Region. Der Orden gibt ihnen zuweilen den Auftrag, wichtige Fragen zu untersuchen, bevor diese gegebenenfalls auf dem Generalkapitel behandelt und entschieden werden.

            Diese Regionalkonferenzen haben sich bewährt bei der Vorbereitung unserer neuen Konstutionen und zusätzlicher Statuten, z.B. über die Ausbildung, die Wirtschaftsführung und die reguläre Visitation. An dieser Erarbeitung der Konstitutionen waren alle Mitglieder des Ordens aktiv beteiligt. Der Prozess erstreckte sich über fünfundzwanzig Jahre, und die Regionen sorgten als Bindeglied dafür, dass die Gesichtspunkte der Basis das Generalkapitel erreichten.

 

Gegenseitige Unterstützung

 

Von benediktinischen Mitschwestern oder Mitbrüdern bekam ich oft zu hören : „Euer Orden ist aber stark zentralisiert!“ Rechtlich gesehen, trifft das gewiss nicht zu – in dieser Hinsicht sind wir vermutlich weniger zentralistisch als die meisten Kongregationen der Benediktinischen Konföderation. Unser Orden hat freilich im Lauf der vergangenen Jahrhunderte und vor allem in der jüngsten Zeit zahlreiche Organe für die Zusammenarbeit zwischen den Klöstern oder zur gegenseitigen Unterstützung ins Leben gerufen, die den Kommunitäten dienen sollen, ohne ihre Autonomie zu verletzen. Solche Werkzeuge finden sich sowohl auf regionaler Ebene wie auf der Ebene des Gesamtordens.

            In erster Linie sind hier die Kommissionen zu nennen. Manche von ihnen hatten eine befristete Aufgabe und bestehen nicht mehr wie die Kommission für die Redaktion der Konstitutionen oder die Kommissionen für die Erarbeitung einzelner Statuten. Die liturgische Kommission des Ordens spielte eine große Rolle, solange die Anpassung unserer Liturgie an die Erfordernisse des 2. Vatikanischen Konzils im Gang war. Sobald liturgische Kommissionen in den verschiedenen Regionen des Ordens eingerichtet waren, hörte die liturgische Kommission des Ordens zu bestehen auf, und ein einfacher Sekretär für die Liturgie trat an ihre Stelle. Mit der Formation verhält es sich ebenso: Wir haben im Orden einen Generalsekretär für die Formation; er hat vor allem für den Informationsfluss in die Regionen hinein zu sorgen. Auch innerhalb der Regionen gibt es Formationsbeauftragte; sie sollen den Austausch von Informationen in Gang halten und Aus- und Fortbildungstreffen organisieren, vor allem für die verschiedenen Stufen der Formation am Beginn des klösterlichen Lebens. In mehreren Regionen beteiligen sich an diesen Gremien für die Liturgie und die Formation, aber auch auch an anderen Gruppierungen wie der Cellerare, der Verantwortlichen für die Gästeaufnahme, der Käsehersteller usw. Angehörige anderer monastischer Orden oder auch Außenstehende, die nicht zur monastischen Welt gehören.

            Eine Juridische Kommission hilft dem Generalabt und seinem Rat wie auch den Regionen und den örtlichen Oberen, beim Studium und der Lösung all jener Fragen, die das Eigenrecht des Ordens oder gesamtkirchliches Recht berühren. Während des Generalkapitels bilden die Mitglieder dieser Kommission, die als Kapitulare oder in einer anderen Funktion beim Kapitel anwesend sind, die Juridische Kommission des Generalkapitels. Außerdem gibt es eine Finanzkommission des Ordens sowie eine Kommission, welche die gegenseitige wirtschaftliche Unterstützung der Klöster des Ordens koordiniert.

 

Beistandskommissionen

 

Seit etwa zwanzig Jahren ist es üblich, eine besondere Kommission zu schaffen, wenn eine Kommunität in einer Ausnahmesituation Begleitung braucht, sei es wegen einer inneren Krise, sei es – was meistens der Fall ist – wegen Überalterung und Ausbleibens von Berufungen. Meist heißen solche Kommissionen „Unterstützungskommission“ oder auch „Zukunftskommission“. Sie werden gebildet auf Bitten des Oberen der Kommunität oder des pater immediatus, gelegentlich auch durch das Generalkapitel. Sie wollen nicht den pater immediatus ersetzen (der meistens dieser Kommission angehört), haben auch keine Entscheidungsbefugnis. Sie sollen einfach die Kommunität auf ihrem Weg unterstützen und im Notfall dem Oberen oder dem pater immediatus beistehen in ihrem Dienst für die Kommunität. Dieses Werkzeug gewinnt erst allmählich Konturen

 

Ein umfangreiches Netzwerk

 

Wie man sieht, ist der Zisterzienserorden der Strengen Observanz ein vielschichtiges Gebilde – eine Gemeinschaft von Gemeinschaften, die untereinander in einem großen Netzwerk verbunden und verflochten sind. Im Geist kollegialer Verantwortung und in voller Achtung für die Autonomie der einzelnen Klöster dienen zahlreiche Strukturelemente dem gleichen Ziel: sicherstellen, dass die Liebe wach und wirksam bleibt und dass wir füreinander Sorge tragen.

            Zugleich unterhält der Orden Beziehungen zu anderen monastischen Netzwerken. So engagiert sich der Orden seit jeher im Rat der AIM, und die Klöster des Ordens beteiligen sich, vor allem in den Jungen Kirchen, an den ordensübergreifenden Zusammenschlüssen von monastischen Kommunitäten.

            All diese Vernetzungen sind nicht rein menschliche Strukturen für Koordination und gegenseitige Unterstützung. In ihnen nimmt im Alltag unserer Kommunitäten eine christliche Grundwirklichkeit Gestalt an: die koinonia.

 

 

Traduction de P. Albert Schmidt OSB, publiée dans: Erbe und Auftrag 89 (2013) 344-348.